Michael Beleites – Positionen – Reifung ermöglichen: Person−Konzept und soziale Heilung

Michael Beleites

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Reifung ermöglichen: Person−Konzept und soziale Heilung

Woher kommt eigentlich die Stimmungslage, dass im "Kampf für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien keine Geltung hätten? Ursache des unreflektierten Handelns der besinnungslosen "Kämpfer" für das Gute sind meist Defizite ihres Selbstverständnisses als Person. Es geht hier um die von der Philosophin Hannah Arendt (1906−1975) als "Zwei−in−Einem−Tätigkeit des Denkens" bezeichnete Grundlage des Person−seins und des hieraus resultierenden moralischen Handelns: "Bestimmte Dinge kann ich nicht tun, weil ich danach nicht mehr in der Lage sein würde, mit mir selbst zusammenzuleben", so Arendt. Und sie schlussfolgert hieraus: "Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Person zu sein." [...]

Warum eigentlich war nach der Überwindung totalitärer Systeme in Lateinamerika und in Afrika das Moment der Versöhnung eine tragende Säule, aber hier in Mitteleuropa nicht? In lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern gibt es ein Bewusstsein dafür, dass ein Volk – auch dann, wenn es aus verschiedenen Ethnien besteht – nicht dauerhaft unter sozialen Spannungen stehen kann, ohne dabei als Ganzes einen Schaden zu nehmen, der sich auf alle nachteilig auswirkt. Und offenbar gibt es dort auch eine klarere Vorstellung von der Veränderlichkeit der Person. [...] Genau dies wäre auch die Grundlage für einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess: den jeweils anderen Reifung zugestehen und sich dann auf Augenhöhe und in Würde begegnen. Ich selbst konnte 1990 nach Gesprächen mit den für meine Verfolgung verantwortlichen Stasi−Offizieren die Erfahrung machen: Wer vergibt, tritt aus seiner Opfer−Rolle heraus.

Schon in naher Zukunft könnten sich die Fragen nach einer sozialen Heilung und nach den Voraussetzungen, die es hierfür braucht, neu stellen. Die Stimmungsmacher des Anpassen−oder−Ausgrenzen−Systems haben uns – im Zusammenwirken mit all jenen, denen der Mut, die Souveränität und die Würde fehlen, ihrem eigenen Urteil zu vertrauen – einen "verwundeten Sozialkörper" beschert. [...] Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir sehr bald vor der Herausforderung einer gesellschaftlichen Aussöhnung stehen. Die Gräben sind so tief, die Verletzungen so umfassend, dass an einer sozialen Heilung kein Weg vorbei führt − wenn unsere Gesellschaft wieder ein regenerationsfähiges Ganzes werden soll. Doch ebenso, wie andernorts Diktaturen und Gewaltregime erst überwunden werden mussten, bevor Versöhnung möglich wurde, muss hier erst eine andere politische Kultur Platz greifen. [...]

Je länger die semitotalitären Verhältnisse der Anpassen−oder−Ausgrenzen−Agenda anhalten, umso schwieriger wird eine soziale Heilung. Zerstörte soziale Bindungen und verloren gegangenes Vertrauen regenerieren nicht von heute auf morgen. Wenn wir die Ganzheit eines gemeinsamen Sozialkörpers wiederherstellen und aufrechterhalten wollen, gilt es, sich als Teil desselben gesellschaftlichen Ganzen zu verstehen, in dem auch die anderen ihren Platz haben. Es gilt, von einem Person−Begriff auszugehen, der die Menschen als veränderliche Wesen würdigt. Es gilt, eine Sensibilität dafür zu entwickeln, wie wir ohne uns und unserem Sozialkörper fortwährend Verletzungen zuzufügen, miteinander umgehen. Es geht darum, individuelle Reifung und soziale Regeneration zu ermöglichen.
Michael Beleites (2020): Wir sind ein Volk! Tumult 03/2020, S. 42f.

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